Mutismus – Schulphobie – Schulangst
Ängste sind menschlich und gehören zum Selbstschutz im Leben dazu. Was aber, wenn die Angst so stark ist, dass die schulische Laufbahn, das Ergreifen eines Berufes zu einem unüberwindbaren Hindernis wird. Beim Mutismus handelt es sich nicht um eine Sprach- oder Kommunikationsstörung, sondern um eine Angststörung: „Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend“.
Kinder mit dieser Sprechhemmung sind organisch gesund und können sprechen, nur in einigen vorhersehbaren Situationen gelingt ihnen das nicht.
Über Jahre hinweg hinterlässt das Schweigen Spuren und es kann zu weiteren Symptomen wie z.B. zur Schulphobie kommen.
Schulverweigerung – Angst vor der Schule
Die Schulphobie wird laut ICD-10 F93.0 als eine „emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters“ eingestuft.
Die Schulphobie ist von Schulangst oder Schulverweigerung abzugrenzen. Schulverweigerung ist auf Leistungsversagen oder vermeintliche Kränkung in der Schule zurückzuführen, also auf reale Befürchtungen der Kinder oder Jugendlichen. Schulangst ist mit Angst vor Schulsituationen, Prüfungen, schulischer Überforderung oder Mobbing verbunden.
Schulphobie – Definition
Phobie, vom griechischen phobos, bedeutet Furcht/Flucht. (Steinhauser, Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen; Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie S.14)
Kernsymptom der Schulphobie ist die Angst des Kindes vor der Schule insgesamt oder vor einzelnen Aspekten, etwa vor bestimmten Kindern, Lehrern oder vor bestimmten Situationen wie z.B. dem Turnunterricht.
Häufig äußert das Kind die Ängste gegenüber den Eltern und möchte zu Hause bleiben. Den Eltern ist das Problem bekannt, aber sehr oft gelingt es ihnen nicht, das Kind zum Schulbesuch zu bewegen. Schätzungen gehen von 2.8 % der Kinder im Grundschulalter und von 0.8% im jugendlichen Alter aus – Tendenz steigend.
Kinder mit einer Schulphobie haben Angst, die Schule zu besuchen, obwohl kein objektiver Grund dafür erkennbar ist. Sie bleiben nicht selten wochen-, sogar monatelang der Schule fern, wenn keine wirksame Behandlung erfolgt.
Anzeichen einer Schulphobie
Die Schulphobie ist eine Angsterkrankungen. Die Schulphobie wird, wie alle Trennungsängste, oft von körperlichen Beschwerden begleitet. So erfahren die Eltern meist von Bauch- und Kopfschmerzen, von Übelkeit, von Herzrasen/Herzklopfen, Erbrechen. In den Situationen zeigen die Kinder häufig Schweißausbrüche, Erröten, Zittern, Schwächegefühl, Schlafstörungen, Muskelverspannung, Stupor (Hemmung des körperlichen Ausdrucks z.B. der Gang verändert sich, wird langsamer, roboterhaft). Diese Symptome können – wie bei Trennungsangst auch – gelegentlich vorgeschoben werden, um den Schulbesuch zu vermeiden.
Treten solche Symptome auf, suchen die besorgten Eltern meist den Kinderarzt auf, der als einer der ersten mit der Schulphobie konfrontiert wird. Deutlicher wird die Schulphobie dann, wenn der Jugendliche nach eingehender medizinischer Abklärung ohne Befund entlassen wird und sich weiterhin weigert zur Schule zu gehen.
Eine Phobie ist eine „Furchterkrankung“. Das Störbild heißt deshalb Schulphobie, weil die Trennungsangst auf die Schule verschoben wird. Wenn ein Kind den Schulbesuch meidet, kann es relativ angstfrei und ohne Leidensdruck bleiben. Aber dieses Vermeidungsverhalten zieht große soziale Probleme nach sich.
Neben der Angst vor dem Schulbesuch können eine Reihe anderer psychischer Symptome auftreten. Leidet das Kind an selektivem oder totalem Mutismus und geht zur Schule, erlebt sie im Klassenverbund eine Alleinstellung. Es steht mit seiner Besonderheit im Mittelpunkt. Angebote zur Hilfe wie Integrationshilfen, Stützlehrer sind wohlmeinend, betonen aber nochmals das Besondere.
Die Lernbereitschaft der Schulphobiker ist meist sehr hoch. Ihre Intelligenz liegt im durchschnittlichen, häufig sogar überdurchschnittlichen Bereich.
Je länger es zu einer Schulabwesenheit kommt, umso schwieriger wird die Eingliederung. Beim Kind wächst die soziale Isolationen, Schuldgefühle und depressive Stimmungen verstärken sich. Zunehmend gerät das Kind in einen Leistungsrückstand.
Aus den Beratungsgesprächen zu Mutismus und Schulphobie
Unsere internen Statistiken aus 15 Jahren Beratung zeigen eine deutliche Zunahme von Mutismus mit Schulphobie. Besonders die Altersgruppe ab 14 Jahre ist davon betroffen. Auszüge aus den Beratungsgesprächen:
- „Unser mutistisches Kind, 15 Jahre, sitzt meist in ihrem Zimmer. Sie nimmt nicht am Familienleben teil. Zur Schule geht sie schon seit Wochen nicht mehr. Die Schule ruft nicht bei uns an und frägt nach, was los ist. Das Jugendamt haben wir eingeschaltet, denn es gibt ja die Schulpflicht. Die Diagnose Mutismus wurde gestellt, als sie 6 Jahre alt war.“
- „Inzwischen ist unser Sohn 19 Jahre alt. Mutismus wurde schon im Alter von 5 Jahren diagnostiziert. Er war bei vielen, vielen Therapien, nichts hat geholfen. Er hat den Schulabschluss geschafft, aber findet keine Arbeit. Wer stellt schon einen schweigenden Menschen ein? Wir sind echt verzweifelt. Was sollen wir bloß tun?“
- „Bei unserer Tochter, sie wird 14 Jahre alt, wurde vor 4 Monaten Mutismus diagnostiziert. Bisher konnte uns niemand sagen, was zu tun ist. Wir wollen unserer Tochter helfen, wissen aber nicht genau wie. Wir rufen aus Berlin an.“
- „Inzwischen ist unsere Tochter 17 Jahre alt. Sie war für drei Monate in der Psychiatrie. Dort sprach sie nicht, ritzte sich, lief weg und nahm an Gewicht ab. Die Psychiatrie entließ sie, weil wir es so wollten. Sie geht schon seit Monaten nicht mehr zur Schule. Zwischendurch hat sie es mal für 3-4 Tage probiert, ging aber nicht wirklich. Das eingeschaltete Jugendamt hatte keine Idee, war aber nicht abgeneigt einer Heimbeschulung zuzustimmen. Nur, was dann? Sie macht ihren Abschluss über so eine Heimbeschulung und wo wird sie studieren, leben?“
Eine Vielzahl der Anrufenden berichten, dass sie die Diagnose für ihr Kind erst in den höheren Klassen erhalten haben. Das Kind sei immer schon schüchtern gewesen, habe kaum bis nicht gesprochen, habe aber dem Unterricht folgen können und erst jetzt in der höheren Schule gäbe es die Probleme.
Angst vor der Aufmerksamkeit
Schüler mit selektivem Mutismus sind äußerst sensible Menschen. Sie sind sich ihres Schweigens bewußt und auch der Reaktionen der Lehrer und Schulkollegen. Sie verstehen, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen. Häufig haben sie wenig Erfahrungen mit Gleichaltrigen und Erwachsenen.
Sie beginnen sich selbst als „das Kind, das nicht spricht“ zu sehen, wie viele Menschen um sie herum. Sie haben Angst vor der Aufmerksamkeit, wenn sie anfangen zu sprechen. Zusammenfassend haben ältere Kinder, beeinflusst durch ihre Erfahrungen, kompliziertere Persönlichkeitsprofile entwickelt. Der Gedanke, alte Gewohnheiten zu verlassen, ist für ältere Kinder häufig erschreckend und sie zeigen sich resistenter gegenüber Therapien (Dr. Elisa Shipon-Blum, ärztliche Direktorin der Selective Mutism Group/Childhood Anxienty Network).
In der Schule ist die Kommunikation von entscheindender Bedeutung für den Lernerfolg, für den Erwerb von sozialer Kompetenz, Ausdrucksfähigkeit, um nur einige zu nennen.
Für den Lehrer kann es wichtig sein zu wissen, dass es sich bei selektivem Mutismus nicht um eine schwere psychogene Reaktion auf ein Trauma handelt. Weder zu „Trauma“ noch zu „genetisch bedingter Störung“ bei Mutismus, gibt es wissenschaftliche Forschungen. Vielmehr handelt es sich bei selektivem Mutismus um eine psycho-soziale Angststörung.
Je rascher das mutistische Kind professionelle Hilfe erhält, umso geringer ist das Risiko einer Schulphobie.
Links
Fachliteratur
Dr. Hopf „Schulangst und Schulphobie: Wege zum Verständnis und zur Bewältigung Hilfen für Eltern und Lehrer“
Dr. Rotthaus „Schulprobleme und Schulabsentismus“
https://pubengine2.s3.eu-central-1.amazonaws.com/preview/99.110005/9783840928116_preview.pdf
Kinderbücher
Dr. Sabine Jörg „Der Ernst des Lebens“
„Wenn du in die Schule kommst, beginnt der Ernst des Lebens“, sagen alle zu Annette. Wie der wohl aussieht? Und wie soll sie sich da noch auf ihren ersten Schultag freuen? Doch dann kommt alles ganz anders und Annette beschließt, sich in Zukunft keine Angst mehr von den Großen machen zu lassen. Eine vergnügliche Vorbereitung auf den ersten Schultag als Mini-Ausgabe für jede Schultüte. Ab 5 Jahren
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Was passiert am ersten Schultag? Was wird in die eigene Schultasche gepackt? Und warum soll man sich eigentlich melden, wenn man etwas sagen möchte? Die Spieler durchlaufen einen kompletten Schultag und gewinnen Einblicke in das Leben eines Schulkindes. Da gibt es zum Beispiel den Schulweg am Morgen, die Gespräche auf dem Pausenhof oder die Nachmittagsbetreuung nach dem Unterricht. Dazwischen wird in alle Unterrichtsfächer hineingeschnuppert. Und wer sich meldet, darf knifflige Aufgaben in Mathematik, Deutsch, Sport oder Musik beantworten.