Selektiver oder Elektiver Mutismus

Was ist selektiver bzw. elektiver Mutismus?

Mutismus KInderbuch„Einsam, in sich gekehrt und stumm blickt Erich aus dem Fenster. Er flüchtet sich in eine Phantsiewelt und findet im Nachtschimmi einen Freund, der ihn versteht. Doch dann lernt er Marisa kennen. Sie stellt keine Fragen und akzeptiert ihn so, wie er ist. Zuerst fällt es ihm schwer, sich von Nachtschimmi zu trennen, doch schließlich hat er Marisa so viel zu erzählen.“

 

Das Kinderbuch skizziert die eingeengte Traumwelt eines nichtsprechenden Kindes.

 

2019 verabschiedet die WHO den ICD-11-Katalog

Die elfte Version der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ (ICD) ist nun beschlossen und wurde im Mai 2019 auf der WHO-Jahresversammlung, nach über 12-jähriger Forschung, verabschiedet. Neben Trennungsängsten zählt der selektive Mutismus zu den pathologischen Ängsten.

Selektiver Mutismus wird unter der Ziffer 6B06 als pathologische Angststörung im ICD-11-Katalog geführt. Im ICD-10 hatte selektiver Mutismus die Ziffer F94.0. Von Mutismus ist auszugehen, wenn ein Kind in bestimmten Situationen, etwa im Kindergarten oder in der Schule, nicht spricht, unter anderen Umständen – meist zu Hause – jedoch weitgehend normal kommuniziert. Die Störung muss über mindestens einen Monat bestehen und zu gravierenden Problemen bei der Ausbildung oder im Sozialleben führen.

Trennungsangst Mutismus kleines Mädchen klammertDie  Trennungsangst wird neu unter der Ziffer 6B05 unter Angststörungen aufgeführt, definiert als „ausgeprägte Furcht oder Angst vor der Trennung von spezifischen Bezugspersonen“. Bei Kindern beziehen sich diese Ängste in der Regel auf die Eltern. Zu den Symptomen zählen wiederholter starker Stress bei einer Trennung (Primärbezugspersonen) sowie die Weigerung, getrennt von der Bezugsperson zu schlafen, zum Kindergarten oder zur Schule zu gehen. Die Symptome müssen über mehrere Monate anhalten und zu einer starken Beeinträchtigung in der Familie führen. Abzugrenzen sind affektive Störungen, soziale Angststörungen und der Mutismus.

Ab 2022 definiert der ICD-11 Katalog Mutismus

zur Gruppe der Angststörungen gehörend.

In der ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird der elektive bzw. selektive Mutismus als deutlich emotional bedingte Selektivität des Sprechens beschrieben, in dem das Kind in bestimmten Situationen spricht und in anderen, genau definierten Situationen, wiederum nicht. Dabei können beim Kind üblicherweise auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Sozialangst, Rückzug, besondere Empfindsamkeit oder Widerstand gefunden werden.

Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.

Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in der sozialen Situationen benötigt wird oder darauf, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt.

Leitsymptome nach ICD-11 6B06

  • Selektivität des Sprechens: In einigen sozialen Situationen spricht das Kind fließend, in anderen sozialen Situationen bleibt es jedoch stumm oder fast stumm
  • Vorhersehbarkeit bezüglich der sozialen Situationen, in denen gesprochen bzw. nicht gesprochen wird
  • Häufiges Einsetzen nicht-sprachlicher Kommunikation (in der Außenwelt) wie z.B. Mimik, Gestik
  • Dauer der Störung über mindestens einen Monat
  • Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck, Sprachverständnis und die Fähigkeit zu Sprechen soll vorhanden sein

Leitsymptome nach DSM-V

  • Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, wobei in anderen Situationen wiederum normale Sprechfähigkeit besteht
  • Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation
  • Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach der Einschulung beschränkt)
  • Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt

Zu diesen Symptomen beschreibt das DSM-V weiter Merkmale und Störungen, die häufig zusätzlich zum Mutismus bestehen. Als häufig gleichzeitig auftretende Störungsbilder werden soziale Ängstlichkeit und Störung des Sozialverhaltens mit aufsässigem Verhalten genannt. Außerdem werden eine depressive Symptomatik, Regulationsstörungen von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle erwähnt (Kristensen, 2000).

Steinhauser, H.C. & Juzi, C. (1996) erwähnen im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 35, 606-601, 100 mutistische Kinder die als komorbide, erweiternde Symptomatik an Enkopresis (Einkoten), Zwängen/Tics, Hyperaktivität, abweichendem Essverhalten, oppositionellem-aggressivem Verhalten (im häuslichen Umfeld), Enuresis (Einnässen), Schlafstörungen, Ängsten, Depression litten.

Für die Diagnose von Mutismus sind diese Sekundärphänome nicht von zentraler Bedeutung.

Wie häufig ist selektiver Mutismus?

Bergmann, Piacentini & McCracken (2002) nennen 7 von 1000 Kindern, die als mutistisch einzustufen seien.

Laut Maggie Johnson und Alison Wintgens (2. Auflage 2016) beträgt die Prävalenz 1 von 140 Kindern in der Altersgruppe unter 8 Jahren.

selektiver elektiver Mutismus Mädchen im KindergartenEine Reihe von Studien zu selektivem Mutismus geben ein Verhältnis von Mädchen zu Jungen von 1,6-2.6 : 1 an (z.B. Lebrun, 1990; Schoor, 1996; Dopp & Gillberg, 1997; Kumpulainen et al., 1998; Black & Uhde, 1995).

Wird im ICD-10 (1993) noch von einer Häufigkeit bei beiden Geschlechtern ausgegangen, so wird im DSM-IV (1996) bereits das geringfügig häufigere Vorkommen bei Mädchen festgehalten. In den Untersuchungen von Steinhauser & Juzi (1996) beträgt der Anteil der Mädchen bei 100 mutistischen Kindern ebenfalls 1.6:1, in der Studie von Dummit et al. (1997) bei 50 Kindern 2.6:1 und bei den 119 selektiv mutistischen Kindern der smg-Statistik (smg 2000) 2.2:1 (81 Mädchen).

Festzuhalten ist, dass selektiver Mutismus bei Mädchen etwas häufiger vorkommt als bei Jungen.

Aubry & Palacio-Espasa (2003) stellten fest, dass chronisch unterdiagnostiziert wird. Allzuhäufig wird das Schweigen mit Schüchternheit verwechselt.

Kinder von Migranten liegen signifikant höher (Bradley & Sloman, 1975; Brown & Lloyd, 1975; Lesser-Katz, 1986; Toppelberg et al. 2005).

Leider liegen keine Zahlen zur Häufigkeit von Mutismus bei Erwachsenen vor.

Störungsbeginn des Mutismus

Steinhauser & Juzi (1996), Dummit et al. (1997), Black & Uhde (1995) und Kristensen (2000) erfassen zusammen 234 mutistische Kinder, bei denen der Störungsbeginn im Alter von 2.7 – 4.2 Jahren festgestellt wurde.